Führung im Change: Zwischen Nebel und Nordstern
- Stefanie Richter
- 10. Juni
- 7 Min. Lesezeit
„Wenn alles klar, planbar und widerspruchsfrei wäre – bräuchte es keine Führungskraft.“
Veränderung braucht Führung – das liest man oft. Doch was bedeutet das konkret, wenn die Richtung selbst noch unklar ist? Wenn Transformation kein Projekt mit Fahrplan, sondern ein Prozess voller Widersprüche, Spannungen und Ungewissheit ist?
Führungskräfte stehen heute nicht mehr über dem Wandel – sie stehen mittendrin. Sie sollen Orientierung geben, während der Kompass wackelt. Entscheidungen treffen, bevor alle Informationen vorliegen. Und gleichzeitig Menschen mitnehmen, Prozesse gestalten und die eigene Rolle neu denken.
Was es dafür braucht? Eine neue Sicht auf Führung. Und den Mut, Komplexität nicht zu vereinfachen – sondern kompetent damit umzugehen.
In diesem Beitrag erfährst du:

Welche vielfältigen Rollen Führungskräfte in Transformationsprozessen einnehmen müssen
Warum Unternehmenskultur ein entscheidender Faktor für erfolgreiche Veränderung ist
Wie Beteiligung im Change gelingen kann
Wie Führung inmitten von Widersprüchen und Unsicherheit funktioniert
Welche Haltung und Kompetenzen es braucht, um als Führungskraft Orientierung zu geben, ohne einfache Antworten zu haben
Der Beitrag bietet Einblicke in die Realität moderner Führung im Wandel – und liefert dir Denkanstöße, Perspektivwechsel und konkrete Impulse aus der Praxis. Mit klaren Worten von Dr. Ingo Schamberger, Vice President Culture & Transformation bei der Fraport AG.
Kultur verstehen heißt: Erstmal irritieren
Unternehmenskultur ist das unsichtbare Betriebssystem eines Unternehmens. Sie beschreibt, wie Menschen im Unternehmen wirklich miteinander umgehen, was unausgesprochen zählt und welche Haltungen, Werte und Verhaltensweisen den Alltag prägen.
Ingo Schamberger macht deutlich: Kultur ist kein neutraler Rahmen. Sie beeinflusst direkt, wie anschlussfähig Veränderung ist – und ob sie gelingt oder auf Widerstand trifft.
„Kultur ist der Rahmen, innerhalb dessen Transformationsprozesse geschehen und gleichzeitig auch Bestandteil des Veränderungsprozesses.“
Wer Kultur verstehen will, muss sie nicht messen – sondern beobachten, wie sie auf Irritation reagiert. Ingo erzählt etwa von einem Workshop, bei dem er kreative Bildkarten als Einstieg nutzte. Ergebnis: Irritation, Ablehnung, Diskussion über die Methode statt über den Inhalt.
Sein Fazit: Die Karten waren nicht anschlussfähig – aber genau dadurch wurde sichtbar, wie die Kultur auf neue Impulse reagiert. Kein Scheitern, sondern wertvolles Feedback.
Führung, so Ingos Sicht, braucht den Mut zur bewussten Irritation. Nicht als Provokation, sondern als Kulturdiagnose. Denn Veränderung ohne Reibung ist meist keine echte.
Was folgt daraus? Kultur ist kein statisches Umfeld. Sie verändert sich im Prozess – und will bewusst adressiert werden. Reibung ist kein Hindernis, sondern ein Indikator. Sie zeigt, wo Entwicklung möglich ist.
Was heißt das für Veränderungen?
Kultur bestimmt, was anschlussfähig ist – und was nicht.
Sie zeigt sich nicht in Leitbildern, sondern in konkreten Situationen.
Wer Transformation gestalten will, muss die Kultur beobachten, bewusst irritieren und daraus lernen – nicht sie umschiffen.
Denn wenn die Unternehmenskultur ignoriert wird, passiert genau das, was so viele Transformationen ausbremst: Beteiligung wird zur Farce, Widerstände eskalieren, und die Menschen machen mit – aber nur auf dem Papier.
Führung im Change: Zwischen Klarheit geben und selbst im Nebel stehen
Führungskräfte spielen eine tragende Rolle in Veränderungsprozessen – und stehen dabei oft selbst im Nebel. Sie sollen Orientierung geben, wenn sie selbst noch keine Klarheit haben. Entscheidungen vertreten, die sie selbst noch verdauen. Vertrauen schaffen – während sie selbst Halt suchen.
Wie kann das gelingen?
Ingo Schamberger sagt klar: „Damit Veränderungsenergie mobilisiert werden kann, braucht es einen attraktiven Nordstern. Das ‚Warum‘ der Veränderung muss durch die Führungskraft klar und konsistent kommuniziert werden.“ Aber: Das Warum allein reicht nicht. Wer Wandel will, muss ihn verkörpern. Oder wie Ingo es formuliert: „Verändern geschieht durch anders handeln.“
Er beschreibt fünf Rollen, die Führungskräfte im Change einnehmen müssen – komplex, fordernd und mit Spannungen verbunden:
Gestalter:in – den Wandel entwickeln
Führung heißt, Transformation aktiv mitzugestalten: Entscheidungen treffen, neue Rollen klären, Rahmen setzen. Nicht delegieren, sondern sichtbar gestalten – im Spannungsfeld zwischen Vorgabe und Gestaltungsspielraum. Aber: Keine Veränderung ohne Mandat!
Leader:in – Menschen begleiten
Führung heißt, präsent sein. Orientierung geben, auch wenn man selbst unsicher ist. Turbulenzen erkennen, Emotionen regulieren, Vertrauen aufbauen. Kommunikation ist keine Maßnahme – sie ist permanenter Prozess. Ingo dazu: "Viele sagen, sie hätten es doch schon gesagt. Ja – aber Führung muss Wiederholung aushalten."
3. Übersetzer:in – Bedeutung herstellen
Was bedeutet die Veränderung konkret für das Team? Für einzelne Rollen? Gute Führungskräfte übersetzen abstrakte Transformation in greifbare Auswirkungen. Ein Beispiel aus Fraport: sogenannte Orientierungsgespräche – strukturierte Dialoge, um neue Erwartungen und Rollen im Team transparent zu machen. Ein starkes Tool gegen stille Überforderung.
Betroffene:r – sich selbst im Wandel führen
Führungskräfte sind nicht nur Steuernde, sondern selbst Teil des Systems. Ihre Rolle verändert sich, Routinen brechen auf. Ingo sagt: Führungskräfte müssen nicht nur führen, sondern auch ihre eigene Rollentransformation gestalten. Wer nicht reflektiert, verliert Steuerung – und wird selbst zum Getriebenen.
Energie-Manager:in – sich selbst erhalten
Führung braucht Energie – und Energie braucht Pflege. Selbstsorge ist kein Luxus, sondern Führungsaufgabe. Ingo berichtet von Intervision, Supervision, bewussten Pausen und einem Wecker, der ihn abends ans Aufhören erinnert. Führung beginnt bei sich selbst.
Diese fünf Rollen sind keine Bullet Points auf einer Folie – sie sind täglicher Balanceakt. Wer sie ausfüllen will, braucht Reflexionsräume, ein stabiles System und die Bereitschaft, sich selbst mitzuverändern.
Beteiligung ist keine Selbstverständlichkeit – sondern eine Designentscheidung
„Betroffene zu Beteiligten machen“ – dieser Satz wird im Change Management fast mantraartig wiederholt. Doch Ingo Schamberger warnt vor zu viel Automatik: Beteiligung ist kein Allheilmittel. Sie ist eine bewusst zu treffende Entscheidung – abhängig vom Kontext.
Zwischen Partizipation und klarer Ansage liegt ein ganzer Werkzeugkasten. Ingo betont: Entscheidend ist, was in welcher Situation sinnvoll ist – und warum. Das macht Beteiligung zur Führungsaufgabe.
Ein hilfreiches Denkmodell bietet das Führungskontinuum von Tannenbaum und Schmidt. Es beschreibt sieben Führungsstile – vom autoritären Entscheiden bis zur demokratischen Gruppenentscheidung. Welcher Stil wann passt, hängt ab von:
Der Führungskraft: Haltung, Erfahrung, Vertrauen ins Team
Den Mitarbeitenden: Kompetenz, Engagement, Entwicklungswille
Der Situation: Komplexität, Zeitdruck, Entscheidungsraum
Ein Beispiel aus Ingos Praxis: Der Umzug in ein neues Büro – eine Entscheidung, die zunächst von der Führungskraft allein getroffen wird. Die Gestaltung des neuen Arbeitsumfelds – also das "Wie genau" – wird dann aber bewusst im Team partizipativ bearbeitet. Für Ingo zeigt sich darin der Unterschied zwischen Strukturvorgabe und Gestaltungsspielraum – und wie situative Beteiligung konkret aussehen kann.
Wer Beteiligung pauschalisiert, riskiert Pseudo-Partizipation, Überforderung oder Entscheidungsblockade. Gute Führung fragt stattdessen: Welche Beteiligung führt in dieser Situation zur besten Entscheidung UND zur größten Unterstützung?
Denn Transformation braucht beides: tragfähige Entscheidungen – und eine kritische Masse, die mitgeht.
Führung heißt: Das Unentscheidbare entscheiden
Viele wünschen sich Organisationen ohne Widerspruch. Ein System, in dem sich alles fügt. Doch Ingo Schamberger stellt klar: Widersprüche sind normal – ja sogar notwendig. Sie sind strukturell eingebaut in arbeitsteilige Organisationen, in denen verschiedene Logiken und Ziele nebeneinander existieren.
Darin liegt eine zentrale Führungsaufgabe: Entscheidungen zu treffen, wo keine eindeutige Lösung existiert. Ingo bezieht sich hier auf Heinz von Foerster - Physiker und Kybernetiker - der es so formulierte: „Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Das klingt sperrig – meint aber: Führung zeigt sich dort, wo es keine objektiven Antworten mehr gibt. Sondern wo Entscheidungen unter Unsicherheit und Verantwortung getroffen werden müssen. Nicht weil es „richtig“ ist – sondern weil jemand es tun muss.
Führung zeigt sich also gerade in Ambivalenzen. Wenn es kein klares Richtig oder Falsch gibt – sondern Verantwortung übernommen werden muss.
Ingos Sicht: Führungskräfte werden nicht dafür bezahlt, einfache Antworten zu geben – sondern Suchprozesse zu gestalten, die zu Entscheidungen führen. Diese können unterschiedlich partizipativ sein – entscheidend ist, dass entschieden wird. Und: Dass die Kriterien dafür transparent gemacht werden.
Sein Rat an Führungskräfte: „Kontext schlägt Einheitlichkeit.“ Gerade im Change ist es oft sinnvoll, in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich zu handeln – abhängig von Reifegraden, Erfahrungen, Erwartungen. Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern mit professionellem Respekt vor Komplexität. Und bitte: „Keine Intervention ohne Intention.“
Fazit: Führung heißt, Transformation auszuhalten – und trotzdem zu gestalten
Die Aufgaben von Führungskräften in Veränderungen sind gewaltig – und das nicht erst seit der letzten Umstrukturierung. Führung im Wandel bedeutet: das Tagesgeschäft bewältigen, neue Rollen annehmen, Spannungen aushalten, Entscheidungen treffen, Kommunikation gestalten – und das alles häufig, während man selbst noch nach Orientierung sucht.
Dieses Interview mit Ingo Schamberger bricht eine Lanze für Führungskräfte. Es zeigt, wie viel sie leisten – und was sie brauchen, um wirksam zu bleiben.
Es geht nicht um den einen Führungsstil, das richtige Beteiligungsformat oder das beste Change-Tool. Es geht darum, wie Führung Menschen in Bewegung hält – auch wenn der Boden unter den Füßen sich verändert.
Denn Veränderung kann man nicht managen. Aber man kann Räume gestalten, in denen sie gelingt.
Fünf Gedanken, die bleiben:
Kultur zeigt sich in der Reibung – nicht in PowerPoints.
Führung ist keine Rolle. Sie ist Verhalten – und Haltung.
Beteiligung muss gestaltet sein – sonst enttäuscht sie.
Selbstführung ist Teil der Führungsverantwortung.
Nicht alles lässt sich entscheiden – aber vieles muss entschieden werden.
Über Dr. Ingo Schamberger
Dr. Ingo Schamberger ist Vice President Culture & Transformation bei der Fraport AG, dem Betreiber des Frankfurter Flughafens. In dieser Rolle verantwortet er die strategische Weiterentwicklung der Unternehmenskultur und begleitet Transformationsprozesse auf allen Ebenen der Organisation.
Mit über 20 Jahren Erfahrung in der Organisationsentwicklung kombiniert er fundiertes betriebswirtschaftliches Wissen mit systemischer Beratungskompetenz. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Change Management, Führungskräfteentwicklung und kulturelle Transformation.
Neben seiner Tätigkeit bei Fraport ist er auch als selbstständiger Berater, Facilitator und Coach aktiv. Sein Ansatz zeichnet sich durch Klarheit, Pragmatismus und eine starke Fokussierung auf die Verbesserung der Zusammenarbeit in Organisationen aus. Weitere Informationen zu seiner Arbeit findest du auf seiner Website.
Vielen Dank, Ingo Schamberger, für das aufschlussreiche Interview und deine wertvollen Einblicke!
Ausblick
In dieser Reihe „12 Monate Transformationen" werde ich noch viele weitere Facetten der Transformation beleuchten und von Führungskräften und Expert:innen lernen, die Wandel aktiv gestalten. Im nächsten Beitrag spreche ich mit Meike Keber über die Erfolgsfaktoren einer Transformation – am Beispiel der agilen Transformation der ING Deutschland, den sie federführend begleitet hat.
Bis bald!
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